Stichpunkt

Ein Blick über den Tellerrand

Weder der Begriff Stadtteilarchiv noch die eingrenzende Bezeichnung Digitales Stadtteilarchiv sind bislang wissenschaftlich definiert. Alle bundesweit existierenden Stadtteilarchive verbindet, dass sie reale Orte sind, an denen Materialien zur Geschichte von Stadtteilen gesammelt und aufbewahrt werden.

Die Aufgaben professioneller Archive sind auf Bundes- und Länderebene durch gesetzliche Vorgaben definiert. Je weiter man sich in der staatlichen Gliederung nach unten bewegt, desto weniger ist geregelt bzw. reglementiert. Stadt- oder Kreisarchive als öffentliche Einrichtungen können – je nach Kommune – ganz unterschiedlich ausgestattet sein. In der Regel stellen die Kommunen Räumlichkeiten und tragen die Kosten für eine (meist leider unzureichende) personelle Ausstattung. Eine Nutzung kommunaler Archivgüter ist sowohl für wissenschaftliche Zwecke als auch für geschichtsinteressierte Bürgerinnen und Bürger gewährleistet.

Alles, was sich unterhalb der Stadt-/Kreisebene bewegt, beruht im Wesentlichen auf freiwilligem Einsatz. In ländlichen Regionen werden Orts- oder Dorfarchive oft von ehrenamtlichen Kräften betrieben, eine öffentliche Nutzung erfolgt nicht selten über die direkte persönliche Absprache.

Wenn es hingegen um den Service für geschichtsinteressierte Bürgerinnen und Bürger auf Stadtbezirksebene geht, dann kann man in einer Großstadt wie Hannover nicht zufrieden sein. Nach Fläche und Bevölkerungszahlen sind Stadtbezirke durchaus mit Mittelstädten zu vergleichen. Linden-Limmer mit seinen 45 000 Einwohnerinnen und Einwohnern (verteilt auf vier Stadtteile) ist zum Beispiel größer als die niedersächsischen Kreisstädte Hameln , Nienburg, Verden oder Uelzen, die aber alle über eigene Stadtarchive verfügen. An vergleichbare Angebote in Hannovers 13 Stadtbezirken mit entsprechenden Räumlichkeiten, regelmäßigen Öffnungszeiten und einer Personalausstattung für laufende Arbeiten ist zur Zeit gar nicht zu denken.

Dabei zeigt ein Blick nach Hamburg, dass es auch anders geht. Als Ende der 1970er-Jahre in vielen Großstädten Geschichtsinitiativen und Geschichtswerkstätten gegründet wurden, war der Fokus vor allem auf Stadtbezirke gerichtet. Der Anspruch, Geschichte von unten zu betreiben, und die Methode der Oral History führten zwangsläufig dazu, sich der Alltagsgeschichte im direkten Umfeld zuzuwenden. Die Aufarbeitung der Nazi-Zeit und die Geschichte der Arbeiterbewegung gehörten zu den zentralen inhaltlichen Anliegen.

Heute gibt es zwar in allen norddeutschen Großstädten mehr oder minder aktive lokalgeschichtlich interessierte Menschen und Gruppen, aber nur in Hamburg hat sich ein engmaschiges Netz an Geschichtswerkstätten mit funktionierenden Stadtteilarchiven gehalten. Die Deutsche Stiftung Denkmalschutz verzeichnet allein für Hamburg mehr als 50 Geschichtswerkstätten, Bürger- und Heimatvereine sowie Stadtteilarchive, die sich der lokalen Geschichte widmen.  Bei einem Besuch des 1980 gegründeten Stadtteilarchivs Ottensen (untergebracht in einer denkmalgeschützten Drahtstifte-Fabrik) konnten wir nur staunend zur Kenntnis nehmen, was alles möglich ist, wenn kommunale Förderung seitens der Kulturbehörde und ehrenamtliches Engagement zusammenkommen. Die Akzeptanz der Arbeit Hamburger Stadtteilarchive ist so groß, dass eine Kürzung der Zuschüsse durch den Senat am Widertand der Bevölkerung scheiterte.

Auch in Bremen gibt es eine Reihe von ermutigenden Beispielen auf Stadtteilebene, bei denen Geschichtsinitiativen kommunale Unterstützung erfahren. Durch das Digitale Heimatmuseum wurden wir auf das Geschichtskontor im Kulturhaus Walle („Brodelpott“) aufmerksam. Das Kulturhaus Walle ist ein soziokulturelles Zentrum, das nicht nur im Stadtteil fest verankert ist, sondern auch über Walle hinaus ein interessiertes Publikum mit seinem Veranstaltungsangebot anzieht. Uns wurde bei einem freundschaftlichen Erfahrungsaustausch in Walle das einzigartige Tonarchivs mit Zeitzeugen-Interviews erläutert und Einblick in das Bildarchiv mit über 20 000 Fotos gewährt. Es wurde deutlich, wie wichtig die kommunale Unterstützung bei der Aufarbeitung von Lokalgeschichte im Stadtteil ist.

In Hannover kann man von Projekten, wie wir sie in Hamburg Ottensen und Bremen-Walle kennenlernen durften, nur träumen. Vielleicht ist jetzt die Zeit gekommen, dass sich auch hier in Linden-Limmer die Initiativen zur Stadtteilgeschichte an einen Tisch setzen und für gemeinsame Positionen stark machen.

Einen Versuch wäre es wert.

(WE)